Text 17

Er findet sich überall, auf der Strasse, im Stadion, in der Schule, in Fernsehstudios, Bierzelten,  Konferenzzimmern oder auf Theaterbühnen. Überall ist der vulgäre Charakter eine Erniedrigung der Freiheit. Prompt gehorcht er seinem Ausdrucksdrang. Noch bevor er weiss, was er empfindet, bekundet er Abscheu, Erstaunen oder Wohlgefallen. Vulgarität ist die Extremform der Unziemlichkeit. Nicht aus Unkenntnis, Gedankenlosigkeit oder Protest missachtet der Rüpel die Etikette, sondern aus innerer Unfreiheit. Er ist dem Wechsel seiner Neigungen unterworfen. Fortwährend müsste er sich entschuldigen, bemerkte er nur, wie er andere beunruhigt, erschreckt, beleidigt.

Vulgär, das sind keineswegs nur die Entäusserungen des Körpers, das Gähnen und Grölen, Schmatzen und Schlürfen, Rülpsen und Furzen, das öffentliche Gestammel, die Entblössung nackter Tatsachen oder die Enthüllung intimer Geheimnisse. Vulgär, das ist auch keineswegs nur die Vorliebe für Plastictischdecken, weisse Socken, Tätowierungen und kolossale Besäufnisse. Zwar liefern die unteren Klassen das Vorbild. Vulgär ist der Pöbel, der von der Religion nur den Aberglauben, von der Kultur nur die Arena, von der Sprache nur die Lautgesten, von der Gesellschaft nur die Masse und vom Staat nur die öffentliche Speisung kennt. Aber der moralische und ästhetische Stumpfsinn hält sich nicht an Milieugrenzen. Ebenso impertinent sind jene Halbgebildeten, die sich jeder Geschmacklosigkeit sogleich anschliessen. Sie richten ihre Mitteilungen am Dümmsten aus, bedienen Ressentiments, weil es ihnen zu Quote, Geld, Prominenz oder Wählerstimmen verhilft.

Gross ist die Freude des Vulgären, wenn er andere blossstellen, denunzieren, der Lächerlichkeit preisgeben kann. Anzügliche Bemerkungen, Klatsch und halblaute Indiskretionen sind seine Spezialität. Vor Publikum manövriert er seine Opfer in peinliche Situationen; und manchmal sind jene derart geltungssüchtig, dass sie sich alles gefallen lassen. Um jeden Preis wollen sie bekannt werden, auch wenn ihre Stimme schrill und hysterisch, ihre Meinungen idiotisch und ihre Erscheinung bestenfalls kurios ist. Zu keiner Banalität sind sie sich zu schade. Je skurriler, desto grösser die Resonanz. Von ihrem Idol lassen sie sich nur zu gerne vorführen. Im Hohngelächter der Zuschauer erkennen sie nur Bestätigung. Die Veranstaltung befriedigt Publikum, Gast und Gastgeber gleichermassen. Unverschämt führt dieser Regie, der namenlose Gast glaubt sich auf dem Höhepunkt seines dürftigen Lebens; und die Zuschauer feiern, dass auch die anderen nicht besser sind als sie selbst.

Der sozialen Abwertung entspricht die Entwertung der Dinge. Zuletzt ist ihm kaum etwas wert. Er achtet weder das Besondere noch das Bedeutsame, kann nichts schätzen und nichts bewundern. Mangels Geschmack hält er sich an hohe Preise. Was viel kostet, muss auch wertvoll sein. Der Wert der Dinge ist ihm ihr Geldwert. Besuchern führt der Emporkömmling stolz seine Beute vor. Sie soll demonstrieren, dass er es zu etwas gebracht hat: die Limousine, die Villa, das Boot, das Flugzeug. Die Prahlerei umhüllt das Kostspielige mit dem Mantel der Schönheit. Schön ist, was ein halbes Vermögen gekostet hat, wie hässlich es auch tatsächlich sein mag. Der Stolz finanzieller Überlegenheit verschmilzt so mit dem Gefühl sinnlicher Genugtuung. Der Geldwert bestimmt den Geschmackswert.