Text 32

A Macht so viel Ehre eitel?
B Nein, so bin ich nicht. Ich war schon mit 16 Jahren im größten Museum der Welt zugegen. Ich kam damals per Autostopp nach Paris und stand als Jugendlicher vor den Gemälden von David, Delacroix, Corot und den Skulpturen der griechischen Antike. Jetzt bin ich sozusagen wieder zurückgekehrt. Mit einem Bild auf dem Rücken.
A Ihr Bild zeigt eine düstere Sternennacht. Darunter liegt ein Mensch. Sind Sie diese Person?
B Ja. Das ist der Mensch, der in Verbindung mit dem Kosmos tritt. In die krustigen Risse der Erdschichten, auf denen der unbewegliche Mensch liegt, habe ich Blei gegossen. Eine Transformation entsteht, ein Metabolismus, ein Stoffwechsel.
A Sie verwenden Blei, Gold, Silber, Erde oder Sand, Teer, Stroh für Ihre Werke und transformieren sie zu Metaphern, zu Weltlandschaften. Was suchen Sie in den archaischen Materialien?
B Ich suche nichts. Ein Künstler macht ja genau dasselbe wie ein Alchemist. Er beschleunigt einen Prozess. Er transformiert. Über das Ergebnis bin ich oft selbst erstaunt. Die DNA, die Genmoleküle aller Menschen, passen in eine Teetasse. Das heißt, wir befinden uns zwischen Mikro- und Makrokosmos.
A Das heißt, Sie wollen Grenzbereiche aufzeigen, die räumlich bedingt sind?
B Nein. Grenzen sehe ich ganz weit. Natürlich sehe ich sie auch politisch oder geografisch, wenn ich etwa an Deutschland denke oder an den Strom, den Rhein. Grenzen bedeuten für mich hauptsächlich das, was unsere Existenz definiert. Dabei stellt sich immer die Frage, ob wir überhaupt verantwortlich sind für das, was wir tun. Oder sind wir ein Strom von Einflüssen, von Strahlungen? Grenzen sind der Begriff, den man braucht, um das Menschsein zu erklären.
A Wo wird das deutlich für Sie?
B In der Dichtung von Ingeborg Bachmann zum Beispiel. Aber ich sehe mich nicht als Genie.
A Nicht?
B Nein, überhaupt nicht. Ich fühle mich in der Welt ganz anders. Meine Arbeit ist verbunden mit all dem, was um mich herum geschieht und mich durchdringt. Ich lebe und kommuniziere mit ihnen. Ich bin eigentlich nur ein Durchgangsstadium. Wenn wir Grenzen nicht überschreiten, werden wir früh alt und sterben aus Verklemmung. Die Wissenschaft konnte nie das gesamte Weltbild erklären. Obwohl es immer mehr Detailwissen gibt … Es heißt, unser Universum dehnt sich aus. Eine unmögliche Vorstellung. Wohin dehnt es sich aus ? Jede Erkenntnis erweist sich als Nichtwissen. Ich weiß überhaupt nicht, wer einen Sinn sehen kann.
A Die Liebe wäre ein Sinn.
B Die Liebe gibt keinen Sinn. Sie gibt vielleicht eine Befriedigung, aber keinen Sinn. Wir wissen nicht, woher wir kommen, warum wir hier sind. Die Abstammung, wie sie die Israeliten sehen, geht bis zu Abraham zurück. Doch niemand weiß, was das alles soll. Unser Universum ist etwas völlig Irrationales. Es gab die Bewegung des Christentums und den Marxismus, um der Welt einen Sinn zu geben. Aber es gibt keinen Sinn.
A Was hält Sie denn am Leben?
B Ich hatte einmal eine Vision. Ich war fünf oder sechs Jahre alt. Ich hatte Maria gesehen. Das ist möglich, wenn man wie ich katholisch erzogen worden ist. Ich war auch Messdiener, ich kann alle Messen auf Lateinisch aufsagen. Visionen sind mit einer Vorstellungskraft und Fähigkeit verbunden, etwas an einen herantreten zu lassen und in ein Bild umzuwandeln. Kein Thema ist je für mich erledigt. Meine frühen Arbeiten waren für mich ein Versuch, nach Auschwitz wieder eine Einheit herzustellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es keine deutsche Kultur mehr. Deutschland hatte nicht nur einen Genozid begangen, sondern sich auch selbst amputiert. Das Bild „Jesus wandelt auf dem Wasser“ zum Beispiel habe ich 1969 selbst einmal aufgegriffen. Ich stehe in einer Badewanne, in die ich einen Hocker gestellt habe, und versuche, auf dem Wasser zu gehen. Ja, wirklich.