Text 33

A Wir hatten das Gefühl: Uns gehört die Zukunft. Jetzt sind wir dran. Ich habe zwei schöne Sachen erlebt: 1968 und die Wiedervereinigung
B Wir waren elitär. Wir waren wenige, aber immer die Besten. Wir hatten die meisten Bücher gelesen, waren am besten informiert etc. Und dann merkten wir, dass wir plötzlich von einer Grundwelle getragen wurden. Wir kriegten Luft unter die Flügel.
A Es gibt die Fotos da sieht man immer das Gleiche. Das ist die Sprache der Bilder.
B Aber all die Befreiungsschriften von damals sind Müll, unerträglich. Nicht nur die Theorie, auch die Schriften zu den Kinderläden. Es steht kein vernünftiger Satz drin, nichts, was man heute noch mit Gewinn lesen könnte.
A Waren die Männer auf den Fotos denn damals Vorbilder für Sie?
B Ja, klar. Das Radikale war schön. Man konnte die Welt erklären und hatte immer Recht. Das war wunderbar.
A Entschuldigen Sie, aber jetzt rege ich mich auf! Damals wurde in den Kinderläden doch eine andere Pädagogik erfunden, verdammt noch mal. In welcher K-Gruppe waren Sie denn? Ich war in keiner. Ich muss mich, anders als Sie, für nichts entschuldigen. Ich habe auch Dutschke nie verstanden. Der war nett und charmant, aber verstanden hat ihn keiner. Und Sie auch nicht.
B Ja, ich auch nicht.
A Dass Sie mit ihrer sozialdemokratischen Familientradition, das Totalitäre nicht mitgemacht haben, ehrt Sie außerordentlich ...
B Nein.
A Sie müssen mir nicht immer widersprechen.
B Doch. Weil Sie mich marginalisieren wollen. Ich bin aber nichts Besonderes. Ich vertrete 68, und zwar den Großteil der Bewegung.
A Nein. Sie vertreten nicht 68.
B Doch. Sie glauben, Sie vertreten 68, weil Sie Schuldgefühle haben. Weil Sie etwas falsch gemacht haben.
A Vom wem sprechen Sie eigentlich?
B Von mir.
A Gut. Dann sagen Sie das dazu.
B Ich habe als Teenager "Nacht und Nebel" von Resnais gesehen. Mich hat das berührt.
A Mich auch. Da sind wir uns einig.
B Nein! Das Bewusstsein, das fatale Erbe wach zuhalten, war ein starkes moralisches Motiv der Achtundsechziger. Das wusste sogar die RAF, die mit Schleyer einen NS-Täter ermordete. Die RAF wusste, dass dies der wunde Punkt der Achtundsechziger war, an dem sie uns kriegen konnten. Wir haben antiautoritäre Erziehung praktiziert. Warum? Weil wir den faschistischen Charakter beseitigen wollten. Auch bei den Kinderläden stand die NS-Vergangenheit im Hintergrund. Die Kinderläden gibt es ja heute noch. Das ist nach wie vor noch ein wunderbares Modell. Das war auch 68.
B Ich möchte Sie etwas fragen: Wie war das mit den NS-Prozessen? An welche Prozesse erinnern Sie sich?
A Wissen Sie, es ist mir unangenehm, wie Sie fragen. Es ist auch unangenehm, wie Sie argumentieren. Das hat was ...
B Interessant ...
A Sie fragen mich ja nicht nur. Sie insinuieren etwas. Sie haben ja eine ganze Theorie im Hintergrund. Sie versuchen mit historischen Lektüren post festum auf der Basis eines schlechten Gewissens ein Fortleben des Faschismus im deutschen Sozialcharakter nachzuweisen. Das ist Schuldgefühlsökonomie bis zum Gehtnichtmehr, gestützt vonTotalitarismus-Verdächtigungen. Unangenehm ist, dass Sie jetzt im Nachhinein so wahnsinnig schlau sind. Sehen Sie denn nicht, wie jung Sie damals waren?
B Ich wollte ja nur sagen ...
A Sie sind mir zu jesuitisch und inquisitorisch.
B Wenn Sie glauben, Sozialdemokraten hätten prinzipiell mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun gehabt, irren Sie.
A Na, Sie haben ja eine moralische Lupe vorgeschaltet, die ist ja schon richtig lebens- und menschenfeindlich. Da gibt es nicht den Funken eines Konsenses zwischen uns. Sie suchen so richtig bösartig nach den Schuldspuren in der Vergangenheit, und Sie sehen nicht, was 68 in der Breite bewirkt hat, nämlich eine Grundwelle von Liberalisierung und Demokratisierung.